Zusammengehörige Gemeinden, Henk P. Medema
Übergemeindliche (Un-) Abhängigkeit.
Ein Freund von mir war in Alaska und suchte dort im örtlichen Telefonbuch nach einer Kirche . Ergebnis: siebenmal »Southern Baptist Church«. Nun ja: Vom Nordpol ausgesehen ist alles südlich. Ein anderer Freund erzählte mir von einer Reise nach Indonesien: Auf einer kleinen Insel fand er ein niedliches weißes Missionskirchlein, auf dem zulesen war: »Church of Scotland«. Zwei Beispiele für Kirchen, die weltweit in einem Verband vereinigt sind. Ist das gut, oder ist es nicht gut, und wenn es nicht gut ist, wie ist esdann gut?
Das Verhältnis der neutestamentlichen Gemeinden zueinander
In der Zeit, in der das Neue Testament geschrieben wurde, waren alle Gemeinden örtlich ganz verschieden. Das geht deutlich aus den Briefen an die sieben Gemeinden in Offb. 2 und 3 hervor. Es gab keinen organisatorischen Verband, der die Gemeinden zusammenhielt. Zwar mussten alle sieben Briefe an alle sieben Gemeinden geschickt werden, was darauf hinweist, dass sie echten Anteil am Wohl und Wehe der anderen nehmen sollten. Doch es gab kein zentrales Büro, das die Dinge in all diesen Gemeinden regelte. Ebenso wenig gab es organisatorische Absprachen untereinander. Ephesus oder Philadelphia wurden nicht aufgefordert, sich um die Probleme von Thyatira oder Laodicäa zu kümmern, und die Brüder in Smyrna wurden nicht ermuntert, nach Sardes oder Pergamon zu gehen, um sich eine Meinung über die dortige Situation zu bilden. In den Briefen des Paulus sehen wir dasselbe. Fast immer sucht der Apostel an die konkrete Situation vor Ort anzuknüpfen, die dann auch meist zwischen den Zeilen zu erkennen ist. Die Gemeinden waren örtlich verschieden, und sie waren auch örtlich verantwortlich, nach den göttlichen Normen zu handeln. In 1Kor 5 sagt Paulus, dass selbst er als mit Autorität bekleideter Apostel keinen Beschluss über eine Frage gemeindlicher Zucht fassen wollte. Dennoch lebten die Gemeinden in der apostolischen Zeit nicht nebeneinander her. Man hatte Aufmerksamkeit, Sorge und Liebe füreinander (siehe u. a. 1Kor 16,1ff.; 2Kor 8,1ff.; 9,2ff.). Die apostolische Belehrung war überall prinzipiell gleich (1Kor 4,17; 7,17; 11,16; 14,33; Kol. 4,16; 1Thess 2,14), wenn auch je nach örtlicher Situation die Akzente unterschiedlich gesetzt werden mussten (1Kor 2,1ff.). Wir können kurzum sagen: (a) Jede neutestamentliche Gemeinde hatte ihre eigene Art; (b) es gab ein gegenseitiges Band der Liebe und Zusammengehörigkeit. Das Neue Testament sagt uns nichts über eine eventuelle Organisation dieses Bandes. Was natürlich noch nicht bedeutet, dass jede Form von Organisation (z. B. gemeinsames Schriftstudium, Briefwechsel, finanzielle Hilfe, Adressenlisten usw.) verboten wäre. Aber wir haben dafür keine Vorschriften.
Beziehungen zwischen Gemeinden in unserer Zeit
Wir leben in ganz anderen Zeiten. Nicht dass das Wort Gottes sich verändert hätte, aber die Umstände sind doch ganz andere geworden. Es gibt heute eine Vielzahl von Denominationen und Kirchen. Auch in der apostolischen Zeit waren die Gemeinden, wie wir sahen, ganz verschieden, aber es gab damals in jedem Fall keine verschiedenen Denominationen, und die gibt es heute wohl. Manchmal haben die Mauern zwischen Kirchen und Gemeinden eine Daseinsberechtigung, denn es bleibt ein göttliches Gebot, dass wir uns von allem, was im Widerspruch zu Gottes Heiligkeit steht, fernhalten sollen. Meist jedoch sind sie nicht zu rechtfertigen, denn prinzipiell darf die christliche Gemeinschaft nicht kleiner sein als der ganze Leib Christi, und nur auf dieser Grundlage kommen Gläubige als Gemeinde Gottes zusammen. In diesem Artikel möchte ich nun nicht die Frage beantworten, wann Absonderung berechtigt und wann sie unberechtigt ist. Ich stelle nur die Zerrissenheit als Tatsache fest. Wer vor 1950 Jahren nach Jerusalem gekommen wäre, hätte dort an Dutzenden, vielleicht sogar Hunderten von Orten christliche Hauszusammenkünfte vorgefunden . aber sie bildeten zusammen eine große, ungeteilte Gemeinschaft, die einträchtig und manchmal auch an einem Ort (in der Säulenhalle Salomos) den Namen Gottes pries. Und mit wem man dann nach Hause ging zur Hausgebetsstunde, zum Liebesmahl oder zum gemeinsamen Lesen der Schrift, machte eigentlich keinen Unterschied. Wer heute, im Jahre 1998, nach Jerusalem (oder Kairo, Chicago, Paris oder London) geht, trifft dort eine sehr zerrissene Christenheit an. Es macht dann durchaus etwas aus, wo man hingeht. Ich finde es immer sehr wichtig, über die Frage zusprechen, welche biblischen Kriterien dann angelegt werden müssen, aber das tun wir jetzt einmal nicht. In diesem Artikel stelle ich zuerst die Frage: Wie können Glaubensgemeinschaften ihre Beziehungen zueinander regeln? Auf allerlei verschiedene Arten und Weisen, manche gut, manche nicht gut. Und dann kommen wir zu der Frage, um die es mir geht: Wie müssen bibeltreue Gemeinden ihre Beziehungen zueinander erleben?
Verschiedene Typen von Beziehungen zueinander
Es sind viele Möglichkeiten denkbar, wie die Beziehungen zwischen örtlichen Glaubensgemeinschaften geordnet werden können, aber es gibt vier Grundtypen:
(1) [inter]nationale Kirchengemeinschaften; (2) Autonomie; (3) Blockbildung; (4) Netzwerke.
Kirchengemeinschaften, die mehr als eine örtliche Gemeinde umfassen, können auf verschiedene Weise errichtet werden: als nationale Volkskirche (wie die Nederlands Hervormde Kerk),als Verband örtlicher Kirchen (wie die Gereformeerde Kerken) oder als internationale Kirche (wie die Römisch-Katholische Kirche). Der Zusammenhalt wird mit Hilfe einer kirchenrechtlichen Struktur hergestellt. Dem gegenüber steht der Standpunkt der Autonomie oder Unabhängigkeit. Kirchen oder Gemeinden, die diesen Weg gehen, wollen an nichts und niemand anderes gebunden sein als an das, was sie selbst als Gottes maßgebende Normen verstehen. (Vorsicht: Wer sagt, dass er einen »unabhängigen« Standpunkt einnimmt, meint damit durchaus nicht, dass er von Gott unabhängig sein will, wie es manchmal als Karikatur dargestellt wird!) Solche Gemeinden kennen wir in den Niederlanden in allen Sorten und Größen: einzeln stehende reformatorische Kirchen, örtliche evangelikale Gemeinden, Hausgemeinden, Willow-Creek-artige Erneuerungsgemeinden usw. Hier wird kein Zusammenhalt hergestellt. Mit Blockbildung meine ich eine Erscheinung, die in einem Kreis wie den »Versammlungen«, wo man nichts von einer überörtlichen Kirchengemeinschaft wissen will, beinahe naturgesetzlich aufzukommen scheint. Schon bald stellt sich die Frage: Wo kann man an anderen Orten hingehen? Und dann: Man will doch irgendwo dazugehören, man will doch wissen, woran man ist. Und so kommt man sehr schnell dazu, Adressenlisten aufzustellen. Auch daran ist noch nichts Verkehrtes. Problematisch wird es erst, wenn diese Listen unmerklich einen bindenden Charakter bekommen (»Wenn du nicht zu einer der Gemeinden gehörst, die auf dieser Liste stehen, gehörst du auch nicht zu uns«). Der Zusammenhalt wird hier durch Listen und (meist ungeschriebene) Regeln hergestellt. Schließlich gibt es noch Netzwerke. Das sind keine geschlossenen Systeme, aber auch keine losen Elemente. Genau wie bei Fischernetzen ist sehr viel offen. Aber nicht alles, denn sonst unktioniert es eben nicht! Es sind auch zahllose starke und feste Knotenpunkte angebracht. Der Zusammenhalt wird auf der Grundlage gegenseitigen Vertrauens hergestellt: In der örtlichen Gemeinde kennt man bestimmte Gemeinden, zu denen man das Vertrauen hat, dass dort ein aufrichtiger, ehrfurchtsvoller Gehorsam gegenüber Gottes Wort bestimmend ist für alles, was geschieht.
Kein Systemzwang, aber auch keine Autonomie
Von den vier oben genannten Alternativen laufen die erste und die dritte (Kirchengemeinschaft und Blockbildung) eigentlich auf dasselbe hinaus. Es wird ein menschliches System aufrechterhalten, das . ob man sich dessen bewusst ist oder nicht . doch im Grunde etwas anderes ist als die Gemeinde, der eine Leib Christi. Ein solches System ist ja einerseits weiter als das Bild der Gemeinde, das wir in der Bibel finden (nämlich überörtlich), und andererseits enger (da man nicht die Einheit des Geistes am eigenen Wohnort zu praktizieren sucht). In beiden Fällen wird der Zusammenhalt durch Vorschriften konstruiert, seien sie geschrieben oder ungeschrieben. Ein solches zwanghaftes System ist alles andere als das biblische Bild der Gemeinschaftsausübung auf der Grundlage der Einheit des Leibes Christi. Das zweite Modell, das der Autonomie oder Unabhängigkeit, kann und darf nicht richtig sein, denn auf irgendetwas muss sich eine Gemeinde ja gründen: auf die Länge der Kirchengeschichte oder auf die Breite der Gemeinde Gottes. Was die Vergangenheit betrifft, so stehen wir, ob wir es nun wollen oder nicht, mit beiden Beinen in einer Tradition . die der Reformation, der Erweckungsbewegung im vorigen Jahrhundert und der evangelikalen Bewegungen unseres Jahrhunderts. In der Gegenwart leben wir, ob wir es nun wollen oder nicht, in einer Landschaft, in der wir von allerlei breiten christlichen Organisationen und Plattformen Gebrauch machen; wir benutzen Hilfsmittel von anderen Christen, lesen ihre Bücher, hören die christlichen Medien, schicken unsere Kinder zu christlichen Schulen usw. Wir kennen einen Leib und einen Geist, wir haben einen Herrn, einen Glauben, eine Taufe, einen Gott und Vater (Eph 4,5ff.). Wir sind Glieder eines Leibes, Kinder derselben göttlichen Familie, Priester in demselben Haus, Jünger desselben Meisters, Schafe des einen Hirten. Wir können nicht so tun, als ob es anderswo keine Christen gäbe, keine anderen Gemeinden, keine Ausübung von Bruderliebe und Heiligkeit in der Gemeinschaft. Aber wie ist es dann richtig . bei einer so großen Vielfalt an Gemeinden?
Zusammengehörigkeit: unter Gottes Wort stehen
Das Wort Gottes ist überall in der ganzen Welt dasselbe. Wo man zu erkennen gibt, dass die Schrift keine Autorität hat, hört die Gemeinschaft auf; wo das aufrichtige Verlangen ist, sich von Gottes Wort leiten zu lassen, ist auch eine ehrliche und echte Basis für Gemeinschaft. Diese Gemeinschaft ist viel mehr als nur örtlich. »Wenn wir im Licht wandeln, haben wir Gemeinschaft miteinander« (1Joh 1,7). Die Gaben, die Gott, der Herr, uns gegeben hat, sind für den ganzen Leib Christi bestimmt (Röm 12,5ff.; 1Kor 12,1ff.; Eph 4,1ff.). Wir schaden uns selbst und einander, wenn wir nur in einer örtlichen Gemeinde davon genießen. Die Ämter der Ältesten und Diener (wie wir über deren Ausübung auch denken mögen) sind örtlich (Apg 14,23; Phil 1,1; Tit 1,5f.). Das muss beinhalten, dass wir jeder Gemeinde in der konkreten Verwirklichung der Gemeinschaftsausübung Freiheit lassen sollten. Gemeinschaft in der vollen Breite, Verwirklichung derselben in der konkreten Tiefe der örtlichen Umstände. Keine Autonomie, aber auch keine Blockbildung. Vielleicht ist »Netzwerke« dafür ein gutes Wort, besonders wenn wir das Schlüsselwort »Vertrauen« hinzufügen. Das ähnelt jedenfalls sehr dem Bild, das wir im Neuen Testament vorfinden. Wo kann man dann also Gemeinschaft üben und wo nicht? Es gibt keinen übergreifenden Kirchenverband, es gibt nicht einmal eine autoritative Liste. Was bleibt dann übrig? Genau die eine Autoritätsinstanz, die uns immer leiten muss: das Wort Gottes selbst. Wo man sich unter Gottes Autorität stellen will und in seiner Wahrheit wandelt, kann man sein; wo man nicht auf Gottes Wort hören will, darf man nicht sein. Ein schwieriger Weg? Ja. Ein schmaler Weg, auf Messers Schneide. Aber auf diesem Weg erleben wir die Gemeinschaft der Kinder Gottes, die echte brüderliche Gemeinschaft, und dort »hat der Herr den Segen befohlen, Leben bis in Ewigkeit« (Ps. 133).
von Henk P. MedemaÜbersetzung: Michael SchneiderÜbersetzt aus: Bode van het heil in Christus 141 (1998) 6/7, S. 7.9
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